Nachruf für Jürgen Weiß
Jürgen Weiß war eine Schlüsselfigur der Pastoralpsychologischen Seelsorgeausbildung in unserem Land. Er war zu Hause in Wittenförden bei Schwerin. Vielen Mitgliedern der DGfP ist er als ein zugewandter und offener Kollege vor Augen. Er war Lehrsupervisor und Kursleiter in der Sektion KSA, darüber hinaus in der Gesellschaft vielfach engagiert, zehn Jahre lang gehörte er der Weiterbildungskommission an. Solange er konnte, war er aktiv in der Vermittlung pastoralpsychologischer Kompetenz durch Kurse und Supervisionen in der Nordkirche und darüber hinaus. Sein Arbeitsfeld reichte von der seelsorglichen Grundausbildung der Vikarinnen und Vikare bis hin zur Fort- und Weiterbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Kirche und Diakonie. Dazu gehörten neben Kursen und Supervisionen auch die engagierte Aktivität in Gremien und Institutionen, um die fachlichen und organisatorischen Voraussetzungen für eine dauerhafte Etablierung von KSA und anderen pastoralpsychologischen Konzepten in der Nordkirche und darüber hinaus zu gewährleisten.
Am 11.August 2022 ist er nach schwerer Krankheit im Alter von 74 Jahren im Hospiz Schloss Bernstorf gestorben. Seine Frau und die beiden Töchter waren ganz in seiner Nähe. Eine Woche später haben wir in einem bewegenden Trauergottesdienst mit vielen Wittenfördenern und Weggefährten von Jürgen Weiß Abschied genommen.
Jürgen Weiß wurde am 17.Juni 1948 in Crottendorf geboren. Seine Herkunft aus dem Erzgebirge war ihm immer bewusst und manchmal hat man es gespürt. Seine unprätentiöse Frömmigkeit, die durchaus auch kirchenkritische Züge tragen konnte, gehörte ebenso dazu wie seine wunderbare Musikalität, und manchmal brach etwas von der verschmitzten Fröhlichkeit des Erzgebirglers durch. Da er nicht an der staatlich verordneten Jugendweihe teilnahm, absolvierte er seine weiterführende Schulausbildung in den kirchlichen Seminaren in Dahme und Hermannswerder. Damit war – unter den DDR-Bedingungen - der Weg in einen kirchlichen Beruf vorgezeichnet. Weiß studierte Theologie am Sprachenkonvikt in Berlin und am Katechetischen Oberseminar Naumburg. Hier lernte er seine Frau Ingrid kennen, später Pastorin in verschiedenen Funktionen. In Naumburg wurde sein Interesse an Seelsorge und Pastoralpsychologie u.a. durch Reimund Blühm geweckt. Weiß wurde in Naumburg sein Assistent und schrieb eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit über die Freud-Rezeption im Werk von Dietrich Stollberg. Die Arbeit wurde 1985 fertiggestellt und verteidigt und zwei Jahre später, was damals ungewöhnlich war, von der Theologischen Fakultät in Leipzig als Promotionsleistung anerkannt. Es ist bemerkenswert, dass zur gleichen Zeit, als in den Evangelischen Kirchen der DDR mit starker Unterstützung der DGfP eine pastoralpsychologische Seelsorgeausbildung aufgebaut wurde, hier eine Forschungsarbeit entstand, die die humanwissenschaftliche und theologische Fundierung christlicher Seelsorge neu bestimmte. Und das in einem politischen Kontext, in dem Psychoanalyse als „bürgerliche Ideologie“ aus dem öffentlichen Diskurs verwiesen wurde! Parallel zu seiner wissenschaftlichen Tätigkeit absolvierte Weiß eine Seelsorgeausbildung an dem gerade neu eingerichteten Seelsorgeinstitut in Halle. Damit waren entscheidende Weichen für seinen Berufsweg gestellt. Nach intensiven Jahren im Pfarramt, wo er sich die Aufgaben in Gemeinde und Krankenhaus mit seiner Frau teilte, wurde er 1985 Studienleiter eines Predigerseminars in Leipzig. Hier konnte Weiß pastoralpsychologische Lernperspektiven für den gesamten Bereich pfarramtlichen Handelns fruchtbar machen – nicht zuletzt im Kontext der gesellschaftlichen Veränderungen seit dem Herbst 1989, die zu neuen Ansätzen in nahezu allen Bereichen herausforderten. 1995 wurde er als Pastor für die Fort- und Weiterbildung in der Mecklenburgischen Landeskirche berufen. Hier konnte Weiß multiperspektivisch mit sehr unterschiedlichen Gruppen und Personen arbeiten und sein pastoralpsychologisches Lehr- und Lernkonzept profilieren. In verschiedenen Ausbildungsgängen hatte er sich zusätzliche Kompetenzen für TZI, Gruppendynamik und Bibliodrama erworben, die seiner Berufstätigkeit jetzt zugutekamen. Mit kritischer Aufmerksamkeit und konstruktivem Rat verfolgte er den Weg der Mecklenburger in die neugegründete Nordkirche. Mit deren Start trat er in den Ruhestand, um den Weg frei zu machen für neue Gestaltungkonzepte im kirchlichen Ausbildungsbereich. Seine Arbeit in der KSA, Supervisionen und sein musikalisches Engagement führte er weiter, so lange es ihm irgend möglich war.
Jürgen Weiß bleibt mir in Erinnerung als ein Freund und Kollege, der seine pastoralpsychologische Kompetenz gebrauchte, um praktisch wirksam zu werden. Er war keine Zauderer. Was als richtig und notwendig erkannt wurde, das musste sich bewähren: konkret beim einzelnen Menschen, bei der Gruppe, für den aktuellen seelsorglichen „Fall“. Ihm kam entgegen, dass er ein feines Gespür für kränkende und verletzende Anforderungen besaß, die sich gerade auch in kirchlichen Strukturen ergeben konnten. Pastoralpsychologische Klarsicht war hier für ihn ebenso notwendig wie methodische Flexibilität, über die er gerade auch in der Zusammenarbeit mit vielen anderen verfügte. Dabei blieb Jürgen Weiß ein engagierter Theologe. Pastoralpsychologisches Handeln stellte für ihn eine notwendige Form der „Kommunikation des Evangeliums“ dar. Er war selbst, wozu er andere ausbildete: ein Seelsorger, der um die Kraft und die Zerbrechlichkeit des Glaubens wusste.
Jürgen Ziemer